Wie tickt der Osten Deutschlands? Politikwerkstatt der Geschwister-Scholl-Schule anlässlich der Landtagswahlen in Sachsen

Spätestens seit den menschenverachtenden Ereignissen im Jahr 2018 in Chemnitz und den Wahlergebnissen, die die AfD bei der Bundestags- und Europawahl in Sachsen erreicht hat, liegt ein besonderer Fokus der medialen Berichterstattung auf dem östlichen Bundesland. Um sich einen persönlichen Eindruck vom Osten Deutschlands zu machen, reisten 15 Schüler*innen der Politikwerkstatt vom 29.08.-02.09. zu einem Seminar nach Dresden. Während des verlängerten Wochenendes standen insbesondere die Landtagswahlen, bei denen die AfD ein Rekordergebnis einfahren könnte, sowie die Spurensuche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Ost und West im Mittelpunkt dieser Exkursion.

Die Gruppe startete am Donnerstagmittag von Bensheim und kam abends am Bahnhof Dresden-Neustadt an. Nachdem das Hostel bezogen worden war, standen ein gemeinsames Abendessen und eine erste kleine Erkundung des Dresdner Stadtteils Neustadt auf dem Programm. Bereits zu diesem Zeitpunkt waren die alternative Ausrichtung und die ausgelassene Stimmung dieses jungen und studentisch geprägten Viertels greifbar, was den Oberstufenschüler*innen sehr gefiel.

Der erste Seminartag begann am Freitag mit der Formulierung von Erwartungen an die kommenden Tage, einer Programmübersicht und einem thematischen Einstieg.

Nach der Mittagspause hatte die Politikwerkstatt ihren ersten offiziellen Termin in der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Die Mitarbeiter Werner Rellecke und Jörg Wolff referierten über die Besonderheiten der anstehenden Landtagswahlen, über die Etablierung der Landeszentrale nach der Wiedervereinigung sowie über deren Arbeit. Im Anschluss durften sich die Schüler*innen noch einige Sachbücher aus dem dortigen umfangreichen Publikationsangebot aussuchen.

Danach fuhr die Gruppe nach Leipzig, um an der berühmten Nikolaikirche den Wahlkampfabschluss der CDU zu verfolgen. Neben dem Spitzenkandidaten Michael Kretschmer waren auch die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und der Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor anwesend, die in ihren Reden noch einmal versuchten, potenzielle Wähler*innen zu mobilisieren.

Am Abend wurde dann das 60. und damit letzte Wahlforum im Vorfeld der Sächsischen Landtagswahlen im Wahlkreis Leipzig-Mitte besucht. Bei dieser Podiumsdiskussion waren Politiker*innen aller Parteien anwesend, die im Landtag vertreten sind oder deren Einzug als wahrscheinlich galt. Die Schüler*innen verfolgten die angeregte Debatte mit Beobachtungsaufträgen, unter anderem zur Rhetorik und zur inhaltlichen Argumentation, richteten aber auch selbst Fragen an die Kandidat*innen.

Der Samstag wurde mit einem Vortrag und einer sich anschließenden Fragerunde zum Thema „Neue Rechte“ eingeläutet. Danilo Starosta vom „Kulturbüro Sachsen e.V.“ berichtete kenntnisreich über die Entwicklung und Erscheinungsformen dieser Bewegungen, sodass den Schüler*innen ein fundierter Einblick in die Thematik vermittelt werden konnte. Trotz der Vielfältigkeit neuer sowie alter rechtsextremer Gruppierungen gibt es eine grundsätzliche Gemeinsamkeit dieser radikalen Strömungen, nämlich die Demontage der liberalen Demokratie. Deshalb hat es sich das Kulturbüro bereits seit 2001 zur Aufgabe gemacht, rechtsextremistischen Strukturen die Stärkung einer aktiven demokratischen Zivilgesellschaft entgegenzusetzen.

Am frühen Samstagnachmittag hatte die Politikwerkstatt dann einen Ortstermin in Chemnitz – jener Stadt, die vor genau einem Jahr wegen menschenverachtender Hetzjagden weltweit in den Schlagzeilen war.

Nach einer kleinen Stadterkundung nahmen einige Teilnehmer*innen noch einmal die Gelegenheit wahr, dem Ministerpräsidenten Kretschmer hautnah bei einem Bürger*innendialog ihre Fragen zu stellen.

Danach hatten die Schüler*innen die Möglichkeit, ein Gespräch mit dem Verein „Aufstehen gegen Rassismus“, der sich aufgrund gestiegener diskriminierender und rassistischer Vorfälle gegründet hatte und Teil eines deutschlandweiten Netzwerks ist, zu führen. Das Foyer des Vereins, in dem auch Ausstellungen von Künstler*innen und vielseitige Ergebnisse von zivilgesellschaftlichen Aktionen zu sehen sind, liegt direkt hinter dem berühmten Karl-Marx-Monument, das von Einheimischen nur „Nischel“ genannt wird. Zum Abschluss wurde noch eine Übungseinheit der „Stammtischkämpfer*innen“ absolviert, in der es darum ging, Stammtischparolen argumentativ zu entkräften.

Am frühen Abend wurde abschließend die Veranstaltung „Beverly Bernsdorf“ besucht. Auf diesem Fest für Demokratie und Toleranz konnten die Schüler*innen lokalen Musiker*innen zuhören, sich über zivilgesellschaftliche Aktivitäten in Chemnitz informieren und von einer extra für uns selbstgemachten Kartoffelsuppe probieren. Zudem bot sich die Möglichkeit, mit den „Buntmacher*innen“ ins Gespräch zu kommen, die im Vorfeld der Landtagswahlen einen „Wahlkampf für die Demokratie“ führten. Dieser überparteiliche Haustürwahlkampf hat sich zum Ziel gesetzt, Bürger*innen zur Stimmabgabe zu motivieren und damit die Wahlbeteiligung zu erhöhen.

Der Wahlsonntag wurde mit einer intensiven Betrachtung der Ost-West-Thematik begonnen. Anhand von zwei Dokumentationen wurde der augenscheinlich immer noch vorhandenen Spaltung zwischen Ost und West auf den Grund gegangen. Trotz bemerkenswerter Fortschritte in den sogenannten neuen Bundesländern fast 30 Jahre nach dem Mauerfall gibt es immer noch Differenzen, die sich u. a. in einem geringeren Einkommen, geringeren Renten oder einer schlechteren Infrastruktur zeigen. Diese Faktoren könnten ein nicht unwesentlicher Grund dafür sein, warum auch heute noch in einigen Regionen Ostdeutschlands ein Gefühl des Abgehängtseins vorherrscht, was wiederum ein Erklärungsansatz für den Erfolg von populistischen Parteien oder einer erhöhten Bereitschaft zur Protestwahl sein könnte.

Als Einstimmung vor den Wahlpartys absolvierten die Schüler*innen dann am Nachmittag eine interaktive Stadtrallye durch die historische Altstadt Dresdens, um Gebäude wie die Semperoper, den Zwinger oder die wieder aufgebaute Frauenkirche zu bestaunen.

Am Abend wurden dann in Kleingruppen die Wahlpartys von SPD, FDP, den Linken und von den Grünen besucht. Hierbei wurden insbesondere die Reaktionen auf die Wahlergebnisse aufgenommen und interessante Gespräche mit Parteimitgliedern und Politiker*innen geführt.

Am Montagmorgen berichteten dann die Kleingruppen über ihre Eindrücke von den Wahlpartys. Das Wahlergebnis wurde schließlich in Form einer Presseschau genauer analysiert und Perspektiven für die Regierungsbildung und mögliche Auswirkungen auf ganz Deutschland diskutiert.

Nach dem gemeinsamen Mittagessen traten die Schüler*innen die Heimreise nach Bensheim an. Alle waren sich darin einig, dass mit diesem Aufenthalt aspektreiche Einblicke in den Osten Deutschlands und in das vielfältige zivilgesellschaftliche Engagement vieler Bürger*innen vor Ort erlangt werden konnten, wodurch einerseits die Verständigung zwischen Ost und West gefördert und somit auch ein Beitrag zum Demokratielernen geleistet werden konnte.

Ein Dank gilt den freien Mitarbeiter*innen vom Haus am Maiberg, Sabrina Klein, Johanna Höckner und Julian Korreng, für die interessante und abwechslungsreiche Seminargestaltung und die vielen ortskundigen Hinweise. Hanne Kleinemas vom Haus am Maiberg sei recht herzlich für die Organisation dieser lehrreichen Reise gedankt.

Wahlnachlese im Haus am Maiberg

Am Donnerstag, 05.09. nahmen Schüler*innen der Politikwerkstatt schließlich noch an einer Nachbetrachtung der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg im Haus am Maiberg teil. Nach einer umfangreichen Presseschau der letzten Tage von Bernd Sterzelmaier und Schüler*innen der Politikwerkstatt wurde mit interessierten Bürger*innen und Politiker*innen der Kreisverbände Bergstraße an verschiedenen Thementischen zur Bedeutung der Landtagswahlen diskutiert. Neben Fragen, wie zum Beispiel „Wer kann sich eigentlich als Wahlsieger fühlen?“, „Wie könnte eine mögliche Regierungskoalition aussehen?“ oder „Wie sollten die etablierten Parteien mit der AfD umgehen?“, war auch ein Thementisch vorgesehen, an dem die Schüler*innen der Politikwerkstatt von ihren Erlebnissen aus Sachsen berichteten. Auch diese Möglichkeit des Dialogs zeigte einmal mehr, dass der konstruktive Austausch ein wesentlicher Bestandteil demokratischen Handelns ist, denn nur wer miteinander im Gespräch bleibt, kann auch gegenseitiges Verständnis schaffen und zusammen etwas erreichen. Die Politikwerkstatt freut sich deshalb auf viele weitere gemeinsame Veranstaltungen zusammen mit dem Haus am Maiberg.

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