Kurzgeschichten als Stolpersteine

Eine Lesung mit der Schriftstellerin Lilo Beil

Bereits zu den Stammgästen des Geschwister-Scholl-Gedenktages zählt seit rund 10 Jahren die Schriftstellerin Lilo Beil, die es immer wieder aufs Neue versteht, Kinder und Jugendliche aller Altersstufen mit ihren Geschichten in ihren Bann zu ziehen. Das bestätigte sich auch diesmal wieder bei ihrem Besuch in der Klasse 6Ra. Die 72-jährige Pfarrerstochter ist eine Spätberufene, wie sie den faszinierten Schülerinnen und Schülern verriet, die sich erst gegen Ende ihrer Berufszeit als Lehrerin an der Martin-Luther-Schule in Rimbach einen langgehegten Traum erfüllte und mit 50 Jahren ihr erstes Buch veröffentlichte.

Als Ruheständlerin erfreut sie nun sich und ihr Publikum in regelmäßigen Abständen mit immer neuen Geschichten. So ist die im Conte-Verlag erscheinende Krimi-Reihe mit dem pensionierten Kriminalkommissar Friedrich Gontard mittlerweile auf acht Bände angewachsen, der neunte mit dem Titel „Mädchen im roten Kleid“ wird kommende Woche im Begleitprogramm der „13. Kleinen Buchmesse im Neckartal“ in Neckarsteinach der Öffentlichkeit vorgestellt. Beil verbindet in ihren Kurzgeschichten und Kriminalromanen Spannung mit historischen und gesellschaftskritischen Themen, weshalb ihre hintergründigen Bücher stets auch zum Nachdenken anregen. Gontards Fälle führen oft zurück in die NS-Vergangenheit und rufen die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte wieder wach. Dass sich ihre Geschichten zudem in der Region Südpfalz und Westpfalz, im vorderen Odenwald und an der Bergstraße abspielen, macht sie für das ortskundige Lesepublikum besonders interessant und glaubhaft. In ihrem letztjährigen Krimi „In kindlicher Liebe“, in dem es um Stalking geht, führt die Spur der Ermittlerin Charlotte Rapp, Beils zweiter Romanfigur, sogar nach Bensheim und zum Fürstenlager.

Während in vergangenen Jahren häufig die älteren Klassen angesprochen wurden, wenn Beil etwa aus ihrem Roman „Die Nacht der grauen Katzen“ (2011) vorlas, in dem ein Arzt von seinen Verstrickungen in die „Euthanasie“-Verbrechen eingeholt wird, so galt die Lesung am diesjährigen Gedenktag den jüngeren Schülern.

Beil hatte ihre Kurzgeschichten-Sammlung „Schattenzeit“ mitgebracht und machte es sich sogleich auf dem Lehrerpult bequem. „Da saß ich als Englischlehrerin früher auch immer am liebsten“, erklärte sie schmunzelnd den staunenden Schülern, die ihre Blicke vor allem auf das von ihr gemalte Bild eines Mädchens richteten, das die Autorin an der Tafel aufgestellt hatte. „Das ist Lisa. Den Namen habe ich ihr in Erinnerung an meine Mutter gegeben. Die hieß Elisabeth und war neun Jahre alt, als Hitler an die Macht kam“, so stellte Beil ihre Hauptfigur aus der Kurzgeschichte „Das Matrosenkleid“ vor. Ihre Mutter habe ihr viel über ihr Leben im „Dritten Reich“ erzählt und das habe sie in diesem Erzählband in ihren Geschichten verarbeitet. Lisa hat Besuch von ihrem reichen Onkel aus Amerika. Als der wieder abreist, darf sich Lisa zum Abschied ein Matrosenkleid kaufen. „Ihr tragt ja heute eher Jeans und sportliche Sachen, aber Lisa wünschte sich damals nichts sehnlicher als dieses Matrosenkleid“, erklärte Beil. Der einzige „Haken“ an der Sache ist der, dass es dieses Matrosenkleid nur bei Löwenstein zu kaufen gibt, einem jüdischen Geschäft. In der Schule hat Lisas Lehrerin von „Judenboykott“ und „Volksschädlingen“ gesprochen und die negativen Berichte in amerikanischen Zeitungen über Deutschland als Lügenmärchen abgetan. Als Lisa ihren Onkel darauf anspricht, reagiert der verärgert und kauft Lisa nun erst recht das Kleid. Doch wird Lisa es wagen, das Kleid auch wirklich in der Schule zu tragen? Da die Geschichte mit einem offenen Ende schließt, ließ Lilo Beil die Klasse darüber abstimmen. Das Ergebnis war recht eindeutig, gut zwei Drittel vermuteten, dass Lisa das Kleid tragen werde. Doch dann verriet Beil den überraschten Schülern die historisch „wahre“ Antwort: „Nein, meine Mama hat sich nicht getraut und hat das Kleid nie getragen.“

Nun leitete Beil zur zweiten Kurzgeschichte über, der sie den Titel „Der Nussknacker“ gegeben habe (auch als „Leas Reise gen Osten“ veröffentlicht). „Eine meiner Töchter hatte damals gerade eine Ballettaufführung, als ich die Geschichte aufgeschrieben habe“, erläutert die Autorin. Doch bevor sie mit der Lesung fortfuhr, reichte sie erst einmal eine Dose mit Himbeerbonbons in der Klasse herum. „Ich habe diese hubbeligen Bonbons schon als Kind geliebt“, gestand sie dabei.  Da sei es ihr nicht anders gegangen als ihrer Hauptfigur Lea, die diese Bonbons immer im Laden von Frau Krause geschenkt bekommt. Doch allmählich bemerkt Lea, dass Frau Krause ihr nur noch Bonbons zusteckt, wenn kein anderer Kunde mehr im Laden ist. Auch sonst wird Lea in letzter Zeit von Bekannten und Nachbarn immer häufiger unfreundlich behandelt. Dann teilt ihr ihre Mutter eines Tages mit: „Wir fahren gen Osten.“ Lea kann sich nicht erklären, warum die Familie verreist, aber die Aussicht auf einen Urlaub an der Ostsee klingt für sie verlockend. Nur schade, dass ihr Vater nicht mitkommt, der plötzlich auf Geschäftsreise „nach Osten“ musste, ohne sich vorher bei ihr zu verabschieden. Lea packt ihre Sachen und bringt ihre Lieblingspuppe Clara zu Anna, ihrer besten Freundin, von der sie die Puppe einst geschenkt bekommen hat und der sie im Gegenzug einen Nussknacker aus dem Erzgebirge mitgebracht hatte. Sie kann Clara unmöglich mit auf die Reise nehmen und Anna muss versprechen, gut auf Clara aufzupassen, solange Lea weg ist.  Die Geschichte bricht an dieser Stelle ab. Für die Schüler blieben eine Menge ungeklärter Fragen zurück, denen Lilo Beil nun im Gespräch mit der Klasse nachging. Wohin ging diese merkwürdige Reise und was geschah mit dem Vater? Allmählich erkannten die lebhaft Anteil nehmenden Schüler, dass hier nicht von einer Vergnügungsreise die Rede war, sondern von der Deportation einer jüdischen Familie ins Konzentrationslager Theresienstadt, einer Reise in den Tod.  

In Lilo Beils dritter Kurzgeschichte „Das Dämmerstündchen“ setzt sich die Autorin mit einem „Schlüsselerlebnis“ aus ihrer eigenen Kindheit auseinander, das sie auf das Jahr 1958 datiert. Die elfjährige Margarethe liegt mit Fieber im Bett. Doch die Temperatur ist bereits gesunken und Margarethe genießt insgeheim die Geborgenheit und die fürsorgliche Pflege ihrer Eltern. Doch dann belauscht sie, ohne es zu wollen, beim Einschlafen ein Gespräch der Eltern im Nebenzimmer, in dem von „großem Unrecht“ die Rede ist, von dem die Eltern „damals“ aber nichts gewusst haben wollen. Es fallen viele für Margarethe unverständliche Wörter wie „evakuiert“, „emigriert“ und „KZ“. Margarethe ist plötzlich hellwach und es gehen ihr tausend Fragen durch den Kopf: Was haben die Eltern nicht gewusst? Welches hässliche Geheimnis, das sich vor ihrer Zeit abgespielt haben muss, soll vor ihr geheimgehalten werden? „Das war das Ende meiner schönen, heilen Kinderwelt“, bekennt die Autorin. Seitdem habe sie das Thema Nationalsozialismus nicht mehr losgelassen.

Auch die Schüler der 6Ra zeigten sich von den lebendig und interessant erzählten Geschichten und Erklärungen der Lesung sehr beeindruckt, vor allem, weil sie auf wahren Begebenheiten beruhten. „Die Zeit damals war grausam“, stellte eine Schülerin fest. Eine andere Mitschülerin meinte „Ausgrenzung ist nicht fair“ und ein Mitschüler ergänzte „Anders-Sein ist nicht gut, nicht schlecht. Anders-Sein ist voll in Ordnung.“ 

Veröffentlicht im BA 21.03.2019.

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