„Als ich so alt war wie ihr heute, bin ich damals aus der DDR abgehauen!“

Ein Zeitzeugengespräch im Rahmen des Geschichtsunterricht (Q4) bei Herrn Sonntag 

Für den 27. April 2018 hat unser Geschichtslehrer Herr Sonntag ein Zeitzeugengespräch mit seinem Onkel, Herrn Friedmar Sonntag (geb. 1953), organisiert. Thema des Vortrages war „die Teilung Deutschlands und das Leben in der DDR“.
Der Zeitzeuge berichtete, wie er das geteilte Deutschland erlebt hat und wie das Leben für ihn und seine Familie in den 60er und 70er Jahren in der DDR gewesen war. Er berichtete von Repressionen und Ausgrenzungen, weil die Familie sich nicht bedingungslos in das System einfügen wollte. Allein die Zughörigkeit zur evangelischen Kirche – der Vater war dort nämlich beruflich tätig und daher spielte der christliche Glaube auch eine zentrale Rolle im Familienleben – führte zu einer Art „Außenseiterdasein“.
Der Höhepunkt seiner Darstellung war die Schilderung seiner Flucht, besser gesagt des Fluchtversuchs. Damals war er selbst noch ein Jugendlicher, der gerade die Schule beendet hat. Der Entschluss zu fliehen kam durch eine junge Frau, die er im Urlaub in Ungarn kennengelernt und in die er sich verliebt hatte. Sie stammte aber aus der BRD, d.h. dem Teil Deutschlands, der durch die „Mauer“ für ihn abgeriegelt war, was bedeutete, dass er sie nach dem Urlaub wohl nie mehr wiedersehen würde. Diese Hoffnungslosigkeit vor Augen gab er seinen Gefühlen für das Mädchen freien Lauf und fasste den Mut, die Flucht zu wagen. So machte er gemeinsam mit einem Freund den Versuch, von Ungarn nach Österreich zu gelangen. Leider kam es, wie es kommen musste. Ohne wirkliche Ortskenntnis und mit dem naiven Glauben, „es schon irgendwie schaffen zu können“, wurden er und sein Begleiter im Grenzgebiet entdeckt und verhaftet.
Nun begann eine ungeheure Leidenszeit durch die ungewisse Zukunft und Perspektivlosigkeit. Angst bestimmte ab jetzt sein Leben. Angst um die eigene Zukunft, aber auch Angst vor den Folgen für seine Familie und Freunde. Als schlimmste Zeit bezeichnete er die ersten sechs Monate seiner Inhaftierung. Er wurde immer wieder befragt, wurde mehrfach an andere Orte gebracht, bekam ständig irgendetwas vorgeworfen. Er befand sich allein in einer kleinen Zelle – Isolationshaft. Er hatte keine Beschäftigung, durfte nichts lesen, hatte niemand zum Reden. Er hatte keinen Kontakt zur Außenwelt. Es war so, dass man verrückt hätte werden können. Seine Familie und Freunde hielt er komplett aus allem raus, um sie zu schützen. Letztlich bekam er für sein „Verbrechen“ in einem Scheinprozess über 1 ½ Jahre Haft auferlegt. Nach dem Urteil änderten sich auch die Haftbedingungen. Er kam in eine Gemeinschaftszelle und hatte nun Zugang zu Büchern. Das Lesen habe ihn gerettet, sagte er rückblickend über die Zeit im Gefängnis.

Einzelzelle im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen

Das Ende seiner Haft kam für ihn überraschend, denn der Weg führte ihn nun doch noch nach „Westdeutschland“. Als politischer Häftling war er für die DDR-Führung kein wirklich brauchbarer Bürger mehr und so wurde er im Zuge der Geheimabsprachen zwischen den beiden deutschen Staaten – wie viele andere Häftlinge auch – von der BRD freigekauft. Er war nun Bürger der BRD. Dieses für ihn fremde Land wurde seine neue Heimat. So kam er nach Baden-Württemberg, wo er auch heute noch lebt. Er studierte, fand eine Festanstellung und heiratete. Aber nicht das Mädchen von damals. Sie hatte nach der langen Zeit bereits ihren eigenen Lebensweg beschritten. In die DDR durfte er nicht mehr zurück. Es galt für ihn ein Einreiseverbot. Seine Familie konnte er nur auf Umwegen sehen. Heimlich traf man sich im Urlaub in der Tschechoslowakei (heutiges Tschechien), weil dorthin beide Seiten reisen durften. Erst knapp 20 Jahre später durch das Ende der DDR und die darauffolgende Wiedervereinigung konnte eine echte Familienzusammenführung stattfinden. Dennoch sagte er abschließend, dass er seine Entscheidung zur Flucht trotz all der Folgen nie bereut habe.

Unser Geschichtskurs saß im Kreis und hörte gespannt den Außenführungen zu. Es war eine sehr lebendige Darstellung und jeder von uns konnte sich in die Zeit vollends hineinversetzen und mitfühlen. Wir durften uns auch viele Materialien wie zum Beispiel ein Abschlusszeugnis, Fotos von ihm und sogar das Foto von dem Mädchen, das er am letzten Abend im Urlaub von ihr bekommen hatte, ansehen. Schnell kamen wir auch ins Gespräch. Wir bekamen die Möglichkeit jederzeit Rückfragen zu stellen, falls wir etwas nicht verstanden oder irgendetwas noch genauer wissen wollten. Die Doppelstunde verging wie im Flug und wir alle waren regelrecht gefesselt von der Geschichte. Es war unheimlich interessant, verständlich und spannend. So wurde Geschichte wirklich lebendig und erfahrbar, auch für diejenigen, die sonst nicht immer das größte Interesse an dem Fach hatten.
Es war auf jeden Fall eine neue und tolle Erfahrung für mich und sicherlich lohnenswert für alle Beteiligten. Denn eine derartige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und dem Leben in einer Diktatur erzeugt einen Appell an uns alle im Hier und Jetzt: Wir können uns glücklich schätzen, in einer Demokratie zu leben und sollten alles daran setzen, diese auch zu bewahren!

Ein Bericht von Viktoria Bickel und Friedemann Sonntag

Bildquellennachweis:
Abb.1 Hinweisschild an der A 115, File:UTafel A115 Teilung.jpg, in: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:UTafel_A115_Teilung.jpg, letzter Abruf 30.08.2018.
Abb.2 Einzelzelle im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, File:Memorial place Berlin-Hohenschönhausen little apel.JPG, in: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Memorial_place_Berlin-Hohensch%C3%B6nhausen_little_apel.JPG, letzter Abruf 30.08.2018.

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