30 Jahre „Friedliche Revolution“: Einblicke in die Bürgerrechtsbewegung der DDR – Ein doppeltes Gesellschaftsspiel in der SED-Diktatur

Ein Kurzbericht vom Zeitzeugengespräch mit Dr. Martin Böttger im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung „Von der Friedlichen Revolution zur deutschen Einheit“.

Am 11.09.2019 konnten zwei Lerngruppen der 10. Klassen des Realschulzweiges eine ganz besondere Doppelstunde erleben. Zu Gast war Dr. Martin Böttger, Jahrgang 1947, Mitbegründer der Initiative Frieden und Menschenrechte und 1989 Gründungsmitglied des Neuen Forums in der ehemaligen DDR. Gespräche mit einem Zeitzeugen ermöglichen einen anderen, natürlich subjektiven, aber ungeheuer authentischen Blick in die Vergangenheit. So berichtete Böttger von seinem Leben in der DDR und beantwortete bereitwillig die vielen Fragen der Schüler*innen.

Obwohl er als Sohn eines Pfarrers geboren wurde, durfte er zwischen 1965 und 1970 Physik studieren. Als Kriegsdienstverweigerer wurde er nach dem Studium Bausoldat. Das bedeutet aber, dass ihm eine anschließende Promotion verweigert wurde. Sein Wirken in oppositionellen Kreisen seit 1970 sorgte dafür, dass er mehrfach verhaftet wurde.

Besonders eindringlich schilderte er seine ersten Formen des Aufbegehrens, als er beispielsweise zu den alljährlichen Feierlichkeiten zum Tag der Arbeit mit selbstgebastelten Schildern auftrat, mit denen er sich für Meinungsfreiheit und Menschrechte einsetzen wollte. Diese Aktion brachte schließlich den ersten Besuch der Stasi bei ihm mit sich. Damit war das „Spiel“ mit dem System eröffnet. Immer wieder plante er Aktionen als einzelner oder in Kleingruppen, die das SED-System entlarven und provozieren sollten, aber keine Straftaten darstellten, für die er längerfristig hätte inhaftiert werden können. Seine Rechte zu kennen und zu wissen, was das Strafgesetzbuch beinhaltet, waren dafür elementar.

Ein sehr schönes Beispiel für diese subversive Art des Protestes war die Entwicklung eines Gesellschaftsspieles, das in oppositionellen Kreisen auf reges Interesse stieß. Das Spiel mit dem Namen „Bürokratopoly“ (in Anlehnung an das westliche Vorbild „Monopoly“) diente als Darstellung der Machtverhältnisse in der DDR, die die Zusammenhänge im DDR-Staat sichtbar machen sollte. Dass die Stasi ihn beobachtete, war, bedingt durch seine oppositionelle Tätigkeit, für ihn keine große Überraschung. Dass er aber nach dem Mauerfall eine Kopie seines Spiels in seiner Stasi-Akte, die mehr als 1000 Seiten umfasste, fand, überraschte ihn dann doch.

Als entscheidende Stationen, die den Untergang des DDR-Systems aufzeigten und beschleunigten, nannte er vor allem die Aufdeckung des Wahlbetrugs bei den Kommunalwahlen 1989 und die Gründung des „Neuen Forums“. Er betonte, dass sie hierbei Dinge gewagt hätten, die 5 Jahre zuvor sicher mit aller Härte des Staates bestraft worden wären. Die Anzeige gegen den Staat wegen Wahlfälschung blieb aber ohne Konsequenzen. Das zeigte immer deutlicher, dass das System an Macht und Kraft eingebüßt hatte, allein schon dadurch, dass man sie gewähren ließ.

Martin Böttger spielte letztlich sein ganzes Leben in der DDR eine Art „doppeltes Gesellschaftsspiel“. Zum einen hatte er das Spiel Bürokratopoly erfunden, welches als kritisches Medium die Machenschaften im Staat karikierte und zum anderen spielte er als Bürger ein ständiges „Katz-und-Maus-Spiel“ mit den Sicherheitsorganen und dem Staatsapparat. Mit der Friedlichen Revolution und dem Untergang der SED-Diktatur war die Niederlage des eigentlich übermächtigen Gegners besiegelt. Dieser Sieg war der Sieg aller Bürger, aller Demokraten.

Noch heute ist Böttger politisch aktiv. Er engagiert sich in der Kommunalpolitik, organisiert Kundgebungen, macht weiter Einzelaktionen vor allem gegen rechte Umtriebe und ist Leiter des einzigen Martin-Luther-King-Zentrums in Deutschland. Im letzten Jahr wurde er für all seine Tätigkeiten mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Die Veranstaltung wurde von allen Teilnehmer*innen als bereichernd, interessant und empfehlenswert bezeichnet. Daher ist eine Wiederholung im nächsten Jahr bereits in Planung. Eine Einladung an unseren Gast wurde bereits ausgesprochen.

weiterführende Links

  1. Verleihung des Bundesverdienstkreuzes
    http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Frank-Walter-Steinmeier/2018/05/180522-Verdienstorden-GG.html
  2. Martin-Luther-King-Zentrum in Werdau
    http://www.king-zentrum.de/mlkz/vorstand
  3. Zur Ausstellung
    https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/von-der-friedlichen-revolution-zur-deutschen-einheit-7110.html
  4. Ein Lehrspiel aus der DDR – Bürokratopoly
    http://www.buerokratopoly.de/
  5. Das „Neue Forum“
    https://www.hdg.de/lemo/kapitel/deutsche-einheit/friedliche-revolution/neues-forum.html
  6. Biografische Angaben zum Zeitzeugen
    https://www.ddr89.de/personen/boettger.html

Steckbrief/Kurzinfo zum Zeitzeugen:

  • Name: Dr. Martin Böttger
  • Alter: 71
  • Familienstand: verheiratet
  • Kinder: 5
  • Ausbildung: Physiker (promoviert)
  • Beruf(ungen): Bürgerrechtler, Orgelspieler, Spielentwickler
  • Konfession: evangelisch
  • Mitgliedschaft: B90/DIE GRÜNEN (seit 1991)
  • Besonderheiten: Träger des Bundesverdienstkreuzes, Mitbegründer des „Neuen Forums“, Leiter des Martin-Luther-King-Zentrums

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